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Russland Wirtschaft: Warum die westliche Prognose nicht aufgeht

Als der Westen im Februar 2022 sein Sanktionsregime gegen Russland scharf stellte, war die Prognose eindeutig: Zusammenbruch innerhalb weniger Monate, wirtschaftliche Isolation, dann kapitulation. Mehr als drei Jahre später zeichnet sich ein völlig anderes Bild ab. Die russische Wirtschaft hat sich nicht nur stabilisiert, sie hat zwischenzeitlich sogar Wachstumsraten von über vier Prozent erreicht – Zahlen, von denen manche europäischen Volkswirtschaften nur träumen können. Die westliche Analyse folgte einem mechanistischen Denkmodell: Sanktionen gleich Druck, Druck gleich Kollaps. Doch Volkswirtschaften funktionieren nicht wie Maschinen unter Laborbedingungen.

Die Mechanik der Fehleinschätzung

Der grundlegende Fehler westlicher Analysten lag in der Annahme, Russlands Wirtschaft sei statisch und abhängig von einem unveränderlichen Netz globaler Beziehungen. Man übersah die enorme Anpassungsfähigkeit autokratischer Systeme, die ohne demokratische Rücksichtnahme Ressourcen umschichten können. Während Deutschland monatelang über Gaspreisdeckel debattierte, hatte Moskau längst neue Handelsrouten nach Asien etabliert. Die Verbindung zwischen wirtschaftlicher Flexibilität und struktureller Anpassung zeigt sich hier in ihrer reinsten Form – nicht durch kreative Zerstörung im Schumpeter’schen Sinne, sondern durch erzwungene Metamorphose unter extremem Druck.

Kriegswirtschaft als Wachstumsmotor

Die russische Wirtschaft erlebte 2023 und 2024 jeweils ein Wachstum von rund 4,1 Prozent, getragen von massiven Staatsausgaben im militärisch-industriellen Komplex. Fabriken, die zuvor Kühlschränke produzierten, stellen nun Militärausrüstung her. Die Arbeitslosigkeit sank auf historische Tiefstände, Reallöhne erreichten Rekordniveaus. Doch dieser Boom trägt die Züge einer künstlichen Beatmung: Er hält den Patienten am Leben, heilt aber nicht die zugrunde liegenden Strukturprobleme. Die Inflation kletterte auf über neun Prozent, während der Leitzins bei 22 Prozent liegt – Werte, die jede normale Marktwirtschaft in eine tiefe Rezession stürzen würden.

Asiatische Achse statt europäischer Abhängigkeit

Was westliche Strategen unterschätzten, war Russlands Fähigkeit zur geografischen Neuausrichtung. China entwickelte sich zum dominanten Handelspartner, Indien kauft russisches Öl in Rekordmengen zu Discountpreisen weiter. Diese Umorientierung ist mehr als ein simpler Handelspartnerwechsel – sie repräsentiert eine tektonische Verschiebung globaler Wirtschaftsbeziehungen. Während Europa sich von russischem Gas löste, baute Moskau Pipeline-Kapazitäten nach Osten aus. Die westliche Sanktionspolitik beschleunigte paradoxerweise genau jene multipolare Weltordnung, die sie eigentlich verhindern sollte.

Der Riss im Fundament

Doch 2025 bröckelt die Fassade. Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich im zweiten Quartal auf nur noch 1,1 Prozent, der Internationale Währungsfonds senkte seine Prognose auf 0,6 Prozent für das Gesamtjahr. Die Kriegswirtschaft hat ihre Grenzen erreicht: Autobauer melden Produktionseinbrüche, die Stahlindustrie kämpft mit Auftragsrückgängen, der Wohnungsbau liegt brach. Alexander Schochin, Vorsitzender der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer, warnte öffentlich, die angestrebte „sanfte Landung“ sei alles andere als sanft. Wenn eine Wirtschaft jährlich zwei Prozent Wachstum benötigt, um Verteidigungs- und Sozialausgaben zu decken, aber nur ein Prozent erreicht, entsteht eine gefährliche Lücke.

Zwischen Transformation und Erschöpfung

Die Dynamik internationaler Wirtschaftsbeziehungen zeigt sich in Russlands Fall in extremer Zuspitzung: Ein Land versucht, sich binnen weniger Jahre von jahrhundertealten Handelsrouten zu lösen und neue aufzubauen. Das Finanzministerium musste seine Prognose bereits von 2,5 auf 1,5 Prozent Wachstum senken. Die Zentralbank spricht von einer „schwierigen Situation in einzelnen Sektoren“. Gleichzeitig plant Moskau massive Steuererhöhungen, um die Kriegsfinanzierung aufrechtzuerhalten – ein klassisches Zeichen, dass die bisherigen Einnahmequellen versiegen.

Die Illusion der Prognose

Westliche Analysten haben sich nicht nur im Timing geirrt, sondern auch im Mechanismus. Sie erwarteten einen plötzlichen Kollaps, stattdessen erleben wir eine schleichende Erosion. Die russische Bevölkerung spürt die Krise bisher kaum – niedrige Arbeitslosigkeit und hohe Löhne im militärischen Sektor dämpfen die Unzufriedenheit. Doch das ist trügerische Stabilität. Wenn die Kriegsausgaben irgendwann zurückgefahren werden müssen, weil die fiskalischen Spielräume erschöpft sind, droht eine harte Landung. Die westliche Prognose ging nicht auf, weil sie lineare Kausalität in einem System annahm, das fundamental nichtlinear funktioniert.

Strukturwandel unter Zwang

Was bleibt, ist eine russische Wirtschaft im Übergangszustand: noch nicht kollabiert, aber auch nicht nachhaltig stabilisiert. Die Abhängigkeit von China wächst, während die technologische Rückständigkeit zunimmt – westliche Mikrochips, Präzisionswerkzeuge und Software fehlen, Ersatz aus Asien ist qualitativ minderwertig. Die Kriegsindustrie absorbiert Arbeitskräfte und Kapital, die in zivilen Sektoren fehlen. Russlands Wirtschaft gleicht einem Marathonläufer, der sein letztes Rennen mit Adrenalin und Schmerzmitteln bestreitet: Er läuft noch, aber die Substanz schwindet mit jedem Kilometer.

Das Dilemma der Reziprozität

Die westliche Strategie basierte auf der Annahme, wirtschaftlicher Druck würde politisches Einlenken erzwingen. Doch autokratische Systeme können Schmerz länger aushalten als Demokratien – sie müssen keine Wahlen gewinnen, keine öffentliche Meinung überzeugen. Gleichzeitig zeigt sich, dass Sanktionen nur wirken, wenn sie global durchgesetzt werden. Solange China, Indien und große Teile des globalen Südens Russland als Handelspartner akzeptieren, bleiben Schlupflöcher. Die westliche Prognose scheiterte, weil sie auf einem Weltbild basierte, das bereits überholt war: der Vorstellung westlicher wirtschaftlicher Dominanz.

Ausblick ohne Gewissheit

Niemand kann heute seriös vorhersagen, ob Russlands Wirtschaft 2026 bei 0,8 Prozent Wachstum stagniert oder in eine Rezession rutscht. Zu viele Variablen spielen eine Rolle: Ölpreise, chinesische Nachfrage, Kriegsverlauf, interne politische Dynamiken. Was sich aber abzeichnet, ist das Ende der einfachen Narrative. Russland ist nicht zusammengebrochen, wie der Westen hoffte. Es erlebt auch keinen nachhaltigen Aufschwung, wie der Kreml behauptet. Stattdessen bewegt sich das Land durch eine graue Zone wirtschaftlicher Fragilität, in der kurzfristige Stabilität und langfristige Instabilität koexistieren. Die westliche Prognose ging nicht auf – nicht weil sie falsch lag in der Richtung, sondern weil sie die Komplexität des Systems unterschätzte.